Leben nach dem Hirnschlag

Das Wunder von Grenchen

Isabel Schild war erst 19, als sie einen schweren Hirnschlag erlitt. Trotz gegenteiliger Prognose kämpfte sie sich zurück ins Leben.

Ich weiss noch, dass ich die Katze gestreichelt habe. Dann sagte mir meine Mutter, ich solle das Fenster schliessen. Plötzlich lag ich am Boden. Ich hatte keine Ahnung, was mit mir los war. Ich weiss aber noch, wie ich dauernd sagte: «Es geht mir gut. Es geht mir gut. Immer und immer wieder.» Isabel Schild war damals 18 Jahre alt, in der Elitemannschaft des Swim Team Biel Bienne, im letzten Jahr in der Sportlerklasse der Kantonsschule Solothurn, als sie am 9. Juli 2009 einen schweren Hirnschlag erlitt. Sie blieb bei Bewusstsein, konnte jedoch ihren Namen nicht mehr sagen.

Der Hirnschlag – auch Schlaganfall oder Stroke genannt – ist in industrialisierten Ländern die dritthäufigste Todesursache und häufigste Ursache für bleibende Behinderungen im Erwachsenenalter. Bis zu 16 000 Personen erleiden in der Schweiz
jährlich einen Hirnschlag.

Dann kam die Ambulanz. Zuerst wurde sie ins Bürgerspital Solothurn gefahren, nach Tests und der klaren Dia­gnose Hirnschlag, Stroke, folgte die Verlegung nach Bern. Alles dauerte viel zu lange. Heute gilt die Maxime, dass bei Hirnschlag die Behandlung in der ersten Stunde erfolgen muss, um Spätschäden zu verhindern. Bei Isabel Schild waren es mehrere Stunden. Viel zu spät. Die Diagnose der Ärzte war niederschmetternd: Isabel Schild werde, falls sie überhaupt überlebe, nie mehr sprechen und nie mehr gehen können. Der Seelsorger wurde bereits organisiert. Der Vater wies ihn zurück. Es sei noch nicht soweit.

Beim Hirnschlag zählt jede Minute. In den meisten Fällen verstopft ein Blutgerinnsel (Thrombus) ein Hirngefäss und das betroffene Hirnareal erhält nicht mehr genügend Sauerstoff. Je schneller die Blutversorgung wiederhergestellt werden kann mit medikamentöser Behandlung oder einem operativen Eingriff, desto weniger Nervenzellen sterben ab.

Das Blutgerinnsel, das bei Isabel Schild eine Hirnarterie verstopfte, wurde durch einen operativen Eingriff entfernt. Als sie aufwachte, wollte sie die Schläuche rausreissen, konnte aber nicht. Dass sie behindert war, merkte sie erst, als eine Pflegende sie fragte, warum sie keine Antwort gebe. «Da realisierte ich, dass ich nicht mehr reden konnte.» Ihr Sprach- und ihr Rechenzentrum im Hirn waren zerstört, abgestorben durch die Unterversorgung mit Sauerstoff. Ihre rechte Körperhälfte war komplett gelähmt, sie sah nur noch auf einem Auge. «Ich hatte keine Panik», sagt Isabel Schild rückblickend, «aber es war ein Scheissgefühl.» Die Ärztinnen und Ärzte blieben dabei, der Hirnschlag sei so schwer gewesen, dass sie sich auf ein Leben im Rollstuhl einstellen müsse, ohne je wieder sprechen zu können.

«Nach drei Wochen Aufenthalt im Spital spürte ich plötzlich, dass ich mein gelähmtes Bein bewegen konnte. Ich behielt es für mich.» Warum? «Ich weiss nicht. Vielleicht, weil ich das Gefühl hatte, aufgegeben worden zu sein?» Ihre Schwester bemerkte es zufällig. Und meldete es weiter. Von da an galt sie als medizinisches Wunder. Immer wieder kamen ganze Gruppen von Ärztinnen und Ärzten an ihr Bett und freuten sich über Isabel Schilds Fortschritte. «Ich glaubte immer daran, dass ich wieder einmal gehen kann», sagt Isabel Schild, denn schliesslich gab es im Elternhaus eine Treppe, und die musste sie doch selber hochgehen können. Das war ihr Antrieb.

Rehabilitation nach einem Hirnschlag beginnt unmittelbar nach dem Ereignis im Spital. Damit die Rehabilitation erfolgreich ist, braucht es den Willen, Ausdauer und
die Motivation der Patientin, mitzuarbeiten. Sie muss bereit sein, Neues zu lernen und sich ein neues Körpergefühl anzueignen.

Es folgten zwölf Wochen Logo-, Physio- und Ergotherapie in Bern. Sie musste wieder schlucken und sprechen lernen, lernte wieder gehen und sich bewegen, schulte ihre Feinmotorik. Sie nervte sich aber auch über die Langwierigkeit der Therapie. Sie hatte keine Geduld. Nach drei Monaten dann die Verlegung in ein Rehabilitationszentrum. «Dort war das Durchschnittsalter 80 Jahre und älter, um 18 Uhr steckten sie die Patienten ins Bett. Das war nichts für mich.» Nach fünf Tagen war sie wieder draussen. Startete halbstationär ein Rehabilitationsprogramm im Bürgerspital Solothurn mit intensiver Logo-, Physio- und Ergotherapie. Sie hatte Schmerzen. Es war langwierig, es war mühsam. Sie musste lernen, die eigene Ungeduld zu zügeln. Noch heute sind Therapie­programme ein Teil ihres Alltags.

Nach einem Jahr Unterbruch wollte sie zurück an die Kantonsschule. Sie musste feststellen, dass der Abschluss mit einer Matur nicht mehr möglich war. Ihr Traum von einem rechtswissenschaftlichen Studium war geplatzt. Sie musste sich neu orientieren und startete 2011 ein Praktikum im kaufmännischen Bereich durch die Zusammenarbeit mit der Kaufmännischen Berufsschule, der IV-Stelle Solothurn und ihrem Therapeuten am Bürgerspital Solothurn. Anschliessend liess sie sich zur Büro­assistentin ausbilden. Trotz ihrer Defizite beim Rechnen. Der Ausbildungsbetrieb glaubte an sie, gab ihr eine Chance und hatte Verständnis, dass gewisse Aufgaben nicht immer mit der Geschwindigkeit einer Gesunden erledigt wurden. 2016 machte Isabel Schild dann den ordentlichen kaufmännischen Abschluss.

Bei einem epileptischen Anfall entladen sich Nervenzellen im Gehirn. Das kann sich etwa durch ein leichtes Zucken des Auges äussern bis hin zu einem Krampf am ganzen Körper. Nicht alle Anfälle verlaufen gleich schwer. Der Epilepsieverlauf ist durch Medikamente gut zu beeinflussen.

Isabel Schilds Genesung ist jedoch nicht nur aufwärtsgegangen. Zurück ins Jahr 2010. Ein Jahr nach dem Hirnschlag kam die Epilepsie hinzu. Ausgelöst durch das Narbengewebe im Hirn. Über 100 Anfälle hatte sie seither. Nur die ersten waren heftig, heute sind es noch Gesicht und Arm, die bei einem Anfall leicht zittern. Den letzten Verdacht auf einen Anfall hatte sie im Hitzesommer 2018, als sie ihren Arm und ihr Bein nicht mehr richtig spürte. «Ich will aber nicht wegen jeder Kleinigkeit ins Spital rennen», sagt sie. Deshalb tauscht sie sich regelmässig telefonisch oder per Mail mit ihrem behandelnden Neurologen Dr. med. Robert Bühler vom Bürgerspital Solothurn aus. «Er sagt mir jeweils, wann ein Spital­besuch angezeigt ist oder ob ich noch etwas zuwarten kann. Das gibt mir Vertrauen.»

Vertrauen hat Isabel Schild auch wieder in ihren Körper gewonnen. Brust-, Rückenlage und Kraul liegen bei der ehemaligen Leistungsschwimmerin wieder drin. Nur Delfin geht nicht mehr – es fehlt ihr die Kraft, beide Arme gleichzeitig aus dem Wasser zu bringen.

Man mag Isabel Schilds Geschichte kaum glauben, wenn sie in ihrer Wohnung in Grenchen so dasitzt, mit ihrer dreimonatigen Tochter im Arm. Eine stolze Mutter. «Mein Stieregrind hat eben auch seine guten Seiten», lacht sie. Ihre Familie habe sie immer unterstützt und ihr Mann übernehme dort, wo sie nicht kann. Nur wer ihre Geschichte kennt, merkt, dass sie beim Gehen leicht nachzieht, sieht, dass ihre Bewegungen mit dem rechten Arm ganz wenig ungelenk sind und dem fällt vielleicht auch die Medikamentenbox auf der Küchenablage auf. Sie schämt sich nicht. Aber Isabel Schild will einfach nicht krank sein.


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