NATÜRLICHE GEBURT ODER WUNSCHKAISERSCHNITT

«Frauen sollen sich gut informiert entscheiden»

Um die Frage Kaiserschnitt oder natürliche Geburt gibt es immer wieder heftige Diskussionen. Für die Gynäkologin Akram Sadat Husseini und die Hebamme Kathrin Stettler ist vor allem aber wichtig, dass die Frauen neutral informiert werden.

Frau Husseini, Frau Stettler, sie sind als Ärztin und Hebamme in der Geburtshilfe tätig. Gab es grosse Veränderungen in den letzten 20 Jahren?
Dr. med. Akram Sadat Husseini: Sehr. Wir haben zum Beispiel viel mehr Möglichkeiten im Bereich der vorgeburtlichen Abklärungen, der Pränataldiagnostik. Und wir haben eine starke Zunahme des Wunsches nach einem Kaiserschnitt.
Kathrin Stettler: Für mich hat ein Generationenwechsel stattgefunden. Ich bin seit bald 40 Jahren als Hebamme tätig und realisiere, dass eine neue Generation von Frauen ihre Kinder zur Welt bringt und eine neue Generation Hebammen sie dabei unterstützt. Viele werdende Eltern möchten eine Planbarkeit und Sicherheit haben, die Redewendung «In guter Hoffnung sein» existiert kaum mehr. Es sind klare Erwartungen da und die Medizin kann heute viele dieser Erwartungen erfüllen. Das ist keineswegs nur negativ, sondern auch ein grosser Fortschritt. Geburten sind sicherer geworden. Aber auf der anderen Seite führt diese Erwartungshaltung dazu, dass es schwierig wird, etwas zu akzeptieren, dass nicht vorhersehbar war.

Ist das nicht auch eine Wechselwirkung? Die Medizin kann immer mehr und bietet dies auch an, ergo möchte niemand darauf verzichten.
Husseini: Das erste Screening findet in der Regel in der 12. bis 14. Schwangerschaftswoche statt. Es besteht aus der Kombination von Ultraschalbefunden, mütterlichem Alter und Biochemie. Bis dahin können die werdenden Eltern überlegen, ob sie das Screening überhaupt möchten. Diese Frage führt aber manchmal zu grossen Unsicherheiten. Werdende Eltern fragen oft zurück, was ich empfehlen würde oder was andere in einem solchen Fall tun. Ich sage immer, sie müssen für sich selbst entscheiden. Es ist unsere Aufgabe, sie dabei gut zu begleiten.

Gibt es viele Schwangere, welche auf eine vorgeburtliche Untersuchung verzichten?
Husseini: Es gibt nur wenige Schwangere, welche darauf verzichten. Im Voraus zu wissen, dass ein Baby allenfalls gleich nach der Geburt medizinische Unterstützung braucht, kann am Ende Leben retten. Die Patientin sollte jedoch darüber aufgeklärt werden, dass selbst durch hochauflösende Ultraschalluntersuchungen ein vollständiger Ausschluss genetischer oder anderer Fehlbildungen nicht möglich ist.
Stettler: Es hat auch mit Selbstkompetenz und Eigenverantwortung zu tun. Man sieht es ja nicht nur im Bereich der Geburten, dass das Vertrauen in den eigenen Körper abgenommen hat.

Hohe Kaiserschnittrate in der Schweiz

2019 kamen in der Schweiz 32,1 Prozent der Kinder per Kaiserschnitt zur Welt. Damit hat die Schweiz eine der höchsten Raten in Europa, hinter Italien, Ungarn oder Polen. Die Weltgesundheitsorganisation WHO geht davon aus, dass nur 10 Prozent der Kaiserschnitte medizinisch notwendig sind – aber so auch das Leben von Mutter und Kind retten können.

Kaiserschnittrate nach Krankenhausstatistik des BFS

Kommen wir zur Geburt selbst. Die Schweiz hat im Vergleich mit anderen Ländern eine hohe Kaiserschnittrate. In den Geburtenabteilungen der Solothurner Spitäler wird aber bewusst die natürliche Geburt gefördert. Wie begegnen Sie diesem Thema?
Stettler: Mir persönlich ist vor allem wichtig, dass sich Frauen gut informiert entscheiden können. Es gibt Gründe für aber auch gegen einen Kaiserschnitt. Frauen müssen wissen, dass der Kaiserschnitt keine Geburt, sondern eine Operation ist und Einfluss auf das Kind haben kann. Es gab mal einen Slogan des Hebammenverbands: «Es ist wichtig, wie wir geboren werden.» Unsere Aufgabe ist es nicht zuletzt, die Frauen zu bestärken, dass sie in der Lage sind, ihr Kind aus eigener Kraft gesund auf die Welt zu bringen.

Welche medizinischen Gründe sprechen für einen Kaiserschnitt?
Husseini: Aus mütterlichen Indikationen kann ich zum Beispiel gewisse Voroperationen an der Gebärmutter oder Herz- Gefässerkrankungen der werdenden Mutter wie ein Aneurysma erwähnen. Diese Frauen sollten bereits vor der Schwangerschaft oder sonst während der Schwangerschaft konsiliarisch durch Spezialistinnen oder Spezialisten untersucht und der Geburtsmodus gemeinsam festgelegt werden. Weitere Gründe für einen Kaiserschnitt sind etwa höhergradige Mehrlinge, also drei Kinder oder mehr, eine Querlage, die andauert oder gewisse Fehlbildungen. Aber auch bei einer Plazenta prävia, bei der die Plazenta vor dem Muttermund liegt, ist ein Kaiserschnitt angezeigt. Und schliesslich gibt es natürlich auch die Notkaiserschnitte, die zur Sicherheit von Mutter und Kind während einer natürlichen Geburt durchgeführt werden müssen oder wenn sich der Zustand von Mutter oder Kind noch vor der Geburt plötzlich verschlechtert.

Frau Husseini, wie reagieren Sie als Ärztin, wenn eine Frau ohne medizinischen Grund einen Kaiserschnitt will?
Husseini: Als Erstes frage ich nach dem Warum. Am häufigsten wird die Angst vor Schmerzen bei einer Geburt genannt. Das ist sehr verständlich. Dabei erkläre ich den Frauen jeweils, dass auch ein Kaiserschnitt nicht ohne Schmerzen ist und die Zeit, bis die Frau wieder körperlich belastbar ist, einiges länger dauert als bei einer natürlichen Geburt.
Stettler: Und es gibt auch bei einer natürlichen Geburt Methoden, wie wir die Schmerzen lindern können, natürliche und pharmazeutische.

Lassen sich denn viele Frauen von einer natürlichen Geburt überzeugen, die eigentlich einen Kaiserschnitt wollten?
Husseini: Eine Zahl zu nennen, ist schwierig. Es ist aber nicht unser Ziel, jemanden von etwas zu überzeugen, das sie vielleicht gar nicht will. Manchmal schafft auch die Frage nach dem Warum eine Erklärung.
Stettler: Wir merken rasch, wie eine Frau während der Schwangerschaft begleitet wurde. Heisst es von Beginn weg, das Kind könnte möglicherweise etwas gross werden oder die Lage ist vielleicht nicht so optimal, so ist der Entscheid für einen Kaiserschnitt meistens schon gefallen. Deshalb ist es auch meiner Sicht wichtig, dass auch Hebammen Schwangere begleiten. Aber auch ich bin der Meinung, dass am Ende die Frau entscheiden soll und nicht wir.

Gewusst?

Das Hormon Oxytocin ist ein Universalhelfer, wenn es um den Nachwuchs geht. So sorgt Oxytocin nicht nur für die sexuelle Erregung der Frau, sondern löst auch Kontraktionen der Gebärmuttermuskulatur (Wehen) und die Ab­lösung der Plazenta aus, verstärkt die mütterliche Fürsorge für das Neugeborene und regt während der Stillzeit die Milchbildung an.

Gibt es noch weitere Entscheidungsgründe für eine Sectio als Angst vor Schmerzen?
Stettler: Sehr oft steht auch der Wunsch nach der Planbarkeit der Geburt im Zentrum. Man möchte exakt wissen, wann der Mutter- und Vaterschaftsurlaub beginnt. Es ist aber auch das Bedürfnis, sich nicht auf etwas einlassen zu wollen, von dem man nicht weiss, wie es sich entwickeln kann. Einen Kaiserschnitt kann man präziser vorhersagen als eine natürliche Geburt. Aber das halten viele werdende Eltern fast nicht mehr aus.
Husseini: Kürzlich war eine Frau bei mir, die bereits zwei Kinder durch natürliche Geburten zur Welt gebracht hatte und es sprach nichts dagegen, auch die dritte Geburt natürlich zu machen. Aber sie wollte beim dritten Kind nun einen Kaiserschnitt. Als ich nach dem Warum frage, meinte sie, während der Coronazeit habe sie keine Unterstützung zu Hause und ihr Mann müsse viel arbeiten. Sie wollte ihre Geburt deshalb exakt planen, damit die beiden Kinder auch betreut sind. Das kann ich sehr gut verstehen. Ich musste sie aber auch darauf aufmerksam machen, dass sie nach dem Kaiserschnitt eine längere Erholungszeit braucht als bei einer natürlichen Geburt. Die Menschen wollen Planungssicherheit – seit der Coronapandemie fast noch mehr als vorher.

Frau Husseini, wenn Sie einen Kaiserschnitt, eine Sectio, vornehmen, ist das für Sie als Ärztin dasselbe wie eine natürliche Geburt?
Husseini: Nein, das ist etwas komplett anderes. Bei einer Sectio bin ich auf den Operationsbereich konzentriert und nichts anderes. Natürlich ist es sehr bewegend, das Kind aus dem Bauch zu holen. Aber ich habe danach nichts mehr mit dem Baby zu tun. Meine Konzentration gilt dem Operationsgebiet, nämlich der Gebärmutter, die ich nähen muss, den Blutungen, auf die achtgeben muss. Das Baby verschwindet in diesem Moment aus meinem Fokus. Bei einer natürlichen Geburt ist der Fokus stärker auf dem Baby, der gesamte Prozess ist vital, aktiv, man spricht mit der gebärenden Frau, mit dem Partner. Das ist etwas anderes.

Wie ist es für Sie als Hebamme, Frau Stettler?
Stettler: Es ist für mich ein sehr grosses Privileg, bei einer Geburt dabei sein zu dürfen. Bei einer Geburt arbeiten wir als Team über Stunden auf ein Ziel hin. Wenn ich sehe, wie Paare zusammenarbeiten, wie die Gebärende unterstützt wird, so berührt mich das jedes Mal. Hebamme zu sein war für mich immer eine Berufung. Ich hatte früher noch Tag und Nacht Pikett und war immer für die Frauen da, 24 Stunden. Da waren so viele Emotionen drin. Wir Hebammen gaben alles – die gebärenden Frauen ebenfalls. Heute kennen wir den Dreischichtbetrieb und den grossen Wunsch nach einer Planbarkeit. Da hat sich viel verändert. Es gibt aber immer noch Frauen, die bereit sind, sich auf das Abenteuer Geburt einzulassen, die eine enorme Kraft entwickeln. Das bewegt mich heute immer noch jedes Mal aufs Neue. Leider gibt es immer weniger Frauen, die sich das zutrauen.

Wie haben sich die eingeschränkten Besuchszeiten während Corona auf die Wochenbettstationen ausgewirkt?
Stettler: Die Coronazeit hat für die Angestellten aber auch für die Frauen im Wochenbett eine enorme Ruhe gebracht. Die Mütter können sich ihren Babys statt dem Besuch widmen, es ist eine grössere Innigkeit zwischen Mutter und Kind eingekehrt, es gibt weniger Stillprobleme und weniger weinende Kinder in der Nacht. Insofern hat die Pandemie ausnahmsweise eine positive Auswirkung. Das zeigt sich übrigens in allen Geburtskliniken.
Husseini: Ich hatte ebenfalls vor allem positive Rückmeldungen. Mit Ausnahme des ersten Lockdowns, als nicht einmal die Partner zu Besuch kommen durften. Das war für Mütter und Väter eine sehr schwierige Zeit.

Gibt es etwas, das man aus der Coronazeit mitnehmen oder lernen kann?
Stettler: Für mich wäre es sehr schön, wenn die Besuchszeiten die ersten drei Tage nach der Geburt auf den engsten Familienkreis beschränkt werden könnten. Es ist so wichtig, dass sich Kind und Mutter in Ruhe aneinander gewöhnen können.

Mehr Vorteile bei der natürlichen Geburt

Die natürliche Geburt ist grundsätzlich die risikoärmste Geburt für Frau und Kind. Vorausgesetzt, sie verläuft ohne Komplikationen. Jede natürliche Geburt hat jedoch einen individuellen Verlauf und lässt sich nie genau vorhersagen. Die Geburtsphasen sind zwar bekannt, wie lange eine Geburt jedoch dauert, wie stark die Schmerzen sein werden ist stets unterschiedlich. Bei einem Kaiserschnitt gibt es zwar die üblichen Risiken einer Operation, aber er lässt sich oft zuverlässiger vorhersagen. Nach dem Kaiserschnitt hingegen bildet sich im Gegensatz zur natürlichen Geburt die Gebärmutter langsamer zurück und Hormone, welche die Milchbildung anregen, werden nicht im gleichen Masse ausgeschüttet. Die Erholungszeit für eine Mutter ist nach einem Kaiserschnitt mit vier bis sechs Wochen deutlich länger. Grundsätzlich haben Kinder, die nach der 39. Woche schonend per Kaiserschnitt entbunden werden, keine Nachteile. Es gibt allerdings Hinweise, dass sie häufiger an Asthma, Allergien, Diabetes oder Zöliakie erkranken können. Das hat damit zu tun, dass bei einer natürlichen Geburt die Babys im Geburtskanal mit spezifischen Bakterien in Verbindung kommen und dadurch ihr Immunsystem angeregt wird.

Weiterführende Links

Vor- und Nachteile von Wunschkaiserschnitt und vaginaler Geburt – Swissinfo

Wunschkaiserschnitt – LetsFamily

Entbindung – Swissmom


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