NOTFÄLLE IN DER PSYCHIATRIE

«Patienten fühlen sich wie in einem Tunnel»

Notfälle erfordern immer rasches Handeln, auch in der Psychiatrie. Nicht zuletzt darum, weil eine psychische Krise für die Betroffenen lebensbedrohlich sein kann. Ein Gespräch mit der Leitenden Ärztin Dr. med. Michaela Harzke.

Michaela Harzke, was ist ein psychiatrischer Notfall?

Dr. med. Michaela Harzke: Ein psychiatrischer Notfall ist eine Ausnahmesituation, bei der unverzüglich eine fachliche Beurteilung und Behandlung nötig ist. Es handelt sich um eine objektive medizinische Notfallsituation. Ein konkreter Notfall kann zum Beispiel Suizidalität sein, also der Wunsch, sich das Leben zu nehmen, aber auch ein Verwirrtheitszustand, Angst oder Erregungszustände. Die betroffene Person kann sich selbst nicht mehr helfen, hat möglicherweise eine Bewusstseinsstörung oder ist verwirrt. Oft gibt es auch einen Zusammenbruch der psychosozialen Kommunikation, ein normales Gespräch ist dann nicht mehr möglich.

Notfälle, welche die körperliche Gesundheit betreffen, kündigen sich meistens an. Ist das bei psychiatrischen Notfällen ebenfalls so?

Nein. Psychiatrische Notfälle treten meist unvorhersehbar und sehr plötzlich auf – sowohl bei Menschen mit bestehender psychischer Erkrankung wie auch bei Gesunden. Auch Krisen können eine psychiatrische Notfallbehandlung notwendig machen. Eine Krise ist eine schwere subjektive Notlage. Eine Situation, die für den Betroffenen nicht mehr bewältigbar ist – auch wenn es für Aussenstehende vielleicht anders aussehen mag. Stress und Druck sind sehr subjektive Empfindungen. Dies kann zum Beispiel durch unterschiedliche Lebens- oder Belastungssituationen hervorgerufen werden wie etwa durch den Tod eines Angehörigen, aber genauso auch durch die Geburt eines Kindes oder eine Belastungssituation bei der Arbeit.

Jemand möchte sich das Leben nehmen, wie gehen Sie da vor?

Die meisten Patienten fühlen sich in solchen Situationen wie in einem Tunnel, bei dem der einzige Weg aus dem Tunnel hinaus der Suizid ist. Wir müssen deshalb ergründen, wie realistisch die Suizidgefahr ist, erfragen die Vorgeschichte oder Ereignisse im Umfeld des Patienten. Sehr wichtig ist, dass wir eine therapeutische Beziehung zur betroffenen Person herstellen können. Eine akute Suizidalität schwächt sich in der Regel nach drei Tagen ab. Die meisten dieser Patienten erhalten danach eine stationäre Therapie. Immer wieder kommt es auch zu einer fürsorgerischen Unterbringung, die oder der Betroffene wird also auch gegen ihren Willen behandelt.

Weshalb?

In der Notfallpsychiatrie sind Patientinnen und Patienten schwer krank. Diese Patienten können nicht mehr für sich selbst einstehen. Das betrifft in der Notfallpsychiatrie rund 70 Prozent aller Eintritte. Wenn wir sehen, dass sich jemand selbst oder andere an Leib und Leben gefährden könnte, so sind wir in der Pflicht, eine fürsorgerische Unterbringung anzuordnen. Eine fürsorgerische Unterbringung wird laufend überprüft und sofort aufgehoben, wenn wir den Eindruck haben, dass dies nicht mehr nötig ist. Fast ausnahmslos alle Patienten, die eine Erinnerung daran haben, wie schlecht es ihnen vor der Behandlung gegangen ist, sind rückblickend dankbar und froh, dass wir so gehandelt haben.

Nehmen psychiatrische Notfälle zu?

Obwohl die Häufigkeit von psychischen Erkrankungen gemessen am Bevölkerungsanteil in den letzten Jahren etwa gleich geblieben ist, gibt es Hinweise darauf, dass die psychiatrischen Notfälle zugenommen haben. Die Tendenz gab es bereits vor Corona. Während der akuten Coronaphasen sind die Aufnahmen insgesamt aber sogar zurückgegangen. Das Thema Einsamkeit spielt bei vielen psychischen Erkrankungen eine sehr grosse Rolle.

Wie wäre es, wenn es den Psychiatrischen Notfall nicht gäbe?

Dann würden wahrscheinlich viele Menschen ihr Leben verlieren, verunglücken, schwer krank werden oder auch andere verletzen.

Krisen und psychiatrische Notfälle

Psychiatrische Notfälle können sich verschiedenartig äussern, beispielsweise durch Panikattacken, Nervenzusammenbrüche oder akute Belastungsreaktionen. Bei solchen Krisen ist eine rasche Unterstützung durch Fachpersonen und unmittelbares Handeln sehr wichtig, um eine Gefahr abzuwenden. Bei solchen Notfällen treten meistens eine Suizidgefahr oder aggressives Verhalten gegenüber Dritten auf.

Notfallnummern Psychiatrie Kanton Solothurn

  • Notfall- und Krisenambulanz Solothurn,
    Telefon 032 627 11 11 (rund um die Uhr erreichbar) oder Notfallnummer 144
  • Notfall- und Krisenambulanz Olten,
    Telefon 062 311 52 10 (werktags 8 bis 17 Uhr.
    Ausserhalb dieser Zeiten via Notfall und- Krisenambulanz Solothurn) oder Notfallnummer 144

Weitere Informationen zu den Notfall- und Krisenambulanzen der Psychiatrischen Dienste


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