KINDER- UND JUGENDPSYCHIATRIE

Wenn die Therapeutin
nach Hause kommt

Es spricht vieles dafür, manche Kinder oder Jugendliche zu Hause und nicht in einem Besprechungszimmer oder in der Tagesklinik zu behandeln. Auf Hausbesuch im Wasseramt.

Das Einfamilienhaus steht an der Hauptstrasse, die Eingangstür befindet sich auf der Rückseite des Gebäudes. Sandra Jenne kennt den Weg. Die diplomierte Psychologin kommt seit einem halben Jahr regelmässig hierhin. Es sind Besuche im Rahmen des aufsuchenden Angebots der Kinder- und Jugendpsychiatrie, was nichts anderes heisst, als dass Therapiesitzungen zu Hause und meist im Beisein der ganzen Familie stattfinden. Sie drückt die Klingel, die Kinder öffnen die Türe, sie freuen sich über den Besuch. Mittlerweile kennen sie Frau Jenne gut. Die Mutter bittet sie herein. Sie setzen sich an den Tisch.

Am Tisch sitzen Fabian (8), Mia (12) und Julian (13) zusammen mit Stefanie Huber*, der Mutter. Julian geht in die sechste Klasse. Er besuchte letztes Jahr mehrere Monate die Tagesklinik. Grund: depressive Symptomatik, Schlafprobleme. In der Schule fühlte er sich unwohl, es war von Mobbing die Rede. Nach der Tagesklinik wurde der Familie nahtlos das aufsuchende Angebot empfohlen. Ab da kam einmal wöchentlich Sandra Jenne zu ihnen nach Hause. Die Unterstützung ist zeitlich auf sechs bis neun Monate begrenzt, in denen ein bis drei Hausbesuche pro Woche möglich sind.

«Bei der systemischen und ressourcenorientierten Psychotherapie geht es darum, mit dem gesamten System arbeiten zu können, in diesem Fall mit der Familie», erklärt Sandra Jenne. «Durch die Besuche zu Hause lerne ich das gesamte System kennen und erlebe die Kinder in ihrem natürlichen Umfeld.» Die Kinder seien dadurch viel offener und vor allem, sie verhalten sich so, wie es ihnen entspricht. «Das kann durchaus heissen, dass es auch mal zu Streit zwischen den Geschwistern kommt oder dass ein Kind wütend den Tisch verlässt – was in der Sprechstunde in einem Ambulatorium eher selten vorkommt.» Solche Reaktionen miterleben zu können, sei für sie als Therapeutin sehr wertvoll.

Aus Rollenspielen lernen
Beim heutigen Besuch – es ist der zweitletzte nach einer sechsmonatigen Therapie – möchte Sandra Jenne mit den Kindern herausfinden, wie man merkt, wenn jemand etwas nicht will. Erste Übung: Fabian und Mia spielen Uno. Mia trickst und legt immer zwei Karten miteinander ab. «Sie trickst immer», sagt Julian. «Stimmt nicht», meint Mia. «Leider doch», so die Mutter. Fabian, der jüngste der drei Geschwister, merkt nichts. Am Ende, als ihm Mia erklärt, wie sie getrickst hat, wird er sauer. «Und Mia, merkst du jetzt, ob Fabian das gerne hat, wenn du betrügst?», fragt Sandra Jenne. «Hmmja», meint Mia.

Zweite Übung. Julian soll ins Zimmer von Fabian gehen und etwas tun, das Fabian nicht mag. Julian weiss genau was. Er schnappt sich die Nerf (ein Spielzeuggewehr mit Schaumgummipfeilen) und ballert auf Fabian. Aus dem Rollenspiel wird rasch eine ernste Angelegenheit. Sandra Jenne unterbricht und fragt die Brüder, ob sie gemerkt hätten, wann der eine etwas nicht mochte. Die Situation wird besprochen. Julian kann den Vorfall reflektieren, Fabian sitzt anschliessend mit seinem Kuscheltier am Tisch.

«Geht es einem Kind schlecht, hat das immer einen Einfluss auf die gesamte Familie», sagt Stefanie Huber. Aber im Vergleich zu vor einem Jahr gehe es Julian viel besser. Auf die Frage, ob das aufsuchende Angebot Vorteile gegenüber dem ambulanten habe, meint sie: «Auf jeden Fall. Denn hier werden wir als gesamte Familie in die Therapie einbezogen.» Julian sei zu Hause viel offener, als sie ihn in der Klinik oder in den Sprechstunden erlebte. «Hier traut er sich, sich selbst zu sein.» «Es ist Teil des Konzepts, dass wir die Kinder oder Jugendlichen so erleben dürfen, wie sie in ihrem natürlichen Umfeld reagieren», sagt Sandra Jenne. Nicht zuletzt sind es immer auch Wechselwirkungen, die zu einem gewissen Verhalten führen. Deshalb kann es auch möglich sein, dass die Therapeutin eine Schulbegleitung macht.

Dritte Übung. Sandra Jenne setzt sich aufs Sofa und fordert die drei Kinder auf, sie so gut wie möglich zu nerven. Die Kinder müssen danach herausfinden, ab welchem Zeitpunkt Frau Jenne signalisiert, dass sie etwas nicht gerne hat. Und zwar ohne, dass Frau Jenne etwas sagen muss. Die beiden Jüngeren machen begeistert mit, Julian findet die Übung etwas doof, schaut aber zu.

Julian geht es besser
Die Stunde ist rasch vorbei. Sandra Jenne bespricht mit Stefanie Huber, wie die Sitzung in der Folgewoche aussehen soll. Es ist die letzte. Sie will von Stefanie Huber wissen, wie sie in die Zukunft blicke. Das sei eine gute Frage, meint sie. «Ich habe gelernt, wie ich auf gewisse Situationen nun reagieren kann. Einen Aussenblick zu erhalten, war enorm hilfreich.» Aber ein wenig Unsicherheit ist auch dabei, wie es nun alleine weitergehen wird. Stefanie Huber rät allen Eltern, den Mut zu haben, ein therapeutisches Angebot in Anspruch zu nehmen, wenn man selbst nicht mehr weiterweiss. «Julian geht es besser und wir sind als Familie näher zusammengerückt», so Stefanie Huber, «nur das zählt». Sandra Jenne verabschiedet sich. Mia muss ins Training («Hast du alles dabei?»), Julian geht in sein Zimmer, Fabian setzt sich aufs Sofa. Sandra Jenne fährt im Feierabendstau zurück nach Solothurn ins Büro. Nach der Dokumentation des Besuchs ist Feierabend. Am nächsten Morgen wird sie einen weiteren Hausbesuch vorbereiten.


Wann braucht mein Kind Hilfe?
Für die Eltern und das soziale Umfeld ist es oft schwierig einzuschätzen, ob und wann ein Kind eine ärztliche Abklärung und Behandlung braucht. Die Kinder- und Jugendpsychiatrie der Solothurner Spitäler steht beratend zur Verfügung bei:

  • familiären und persönlichen seelischen Krisen
  • Kontakt-, Beziehungs- und Verhaltensproblemen innerhalb und ausserhalb der Familie
  • emotionalen Belastungszeichen, welche sich zum Beispiel in Form von Ängsten, Zwängen, Depressivität oder Suizidgedanken äussern
  • schweren psychischen Erkrankungen mit Zeichen wie Realitätsverlust, Wahnvorstellungen, Halluzinationen
  • körperlichen Störungen mit starkem Bezug zum psychischen Befinden, wie zum Beispiel Essstörungen, Schlafstörungen, Einnässen, Einkoten
  • Entwicklungsstörungen einschliesslich ADHS oder Störungen aus dem autistischen Spektrum
  • Belastungsreaktionen durch Erfahrungen von Gewalt, Vernachlässigung, Misshandlung

Kinder- und Jugendpsychiatrie im Kanton Solothurn
In Grenchen, Solothurn, Balsthal und Olten können Kinder und Jugendliche ambulante Angebote in Anspruch nehmen, in Solothurn gibt es ausserdem eine Tagesklinik. Das Angebot der aufsuchenden Kinder- und Jugendpsychiatrie gibt es seit 2021. Die stationäre Behandlung von Kindern und Jugendlichen aus dem Kanton Solothurn erfolgt in Bern, Basel oder im Kanton Basel-Landschaft. Die Solothurner Spitäler AG hat mit den dortigen Kliniken Kooperationsverträge abgeschlossen.


Wir freuen uns über Ihre Kommentare zum Beitrag!


Weitere Beiträge

Vom Spital bis zur Spitex

Die beste Versorgung im Spital nützt wenig, wenn die notwendige  Nachsorge nach dem Spitalaustritt schlecht oder gar nicht organisiert wurde. Fünf Sichtweisen, wie eine gute Übergabe geplant sein soll.

Direkt nach Hause

Immer mehr Patientinnen und Patienten gehen direkt in die Notfallstationen der Spitäler statt zur Hausärztin oder zum Hausarzt. Rund drei Viertel der Fälle können entsprechend ambulant behandelt werden.

Pflege: Bei uns laufen Informationen zusammen

Die Planung des Austritts fängt bei uns bereits beim Eintritt an. Natürlich ist es ein grosser Unterschied, ob es sich um eine betagte Person handelt, die mit einer Lungenentzündung notfallmässig eingeliefert wird, oder um einen geplanten orthopädischen Eingriff eines jungen Menschen.