Essstörungen bei Kindern und Jugendlichen

Die Kontrolle erlangen – um jeden Preis

Seit Corona haben Essstörungen bei Kindern und Jugendlichen zugenommen. Eltern kommt bei der frühzeitigen Erkennung und Behandlung eine wichtige Rolle zu.

50 Prozent aller Mädchen wünschen sich, schlanker zu sein. 75 Prozent der Jungen möchten mehr Muskeln haben. Dass junge Menschen unzufrieden mit ihrem Körper sind und ihn verändern möchten, gehört zu einer normalen Entwicklung. Nicht aber bei allen Jugendlichen verläuft diese Veränderung in normalen Bahnen. Rund 3,5 Prozent entwickeln eine Essstörung, Mädchen häufiger als Knaben.

«Essstörungen sind sehr unterschiedlich. Anorexie, also Magersucht, ist nur eine davon. Eine Person kann auch normalgewichtig sein und eine Essstörung haben», sagt Dr. med. Frauke Hartmann, Kinder- und Jugendpsychiaterin mit langjähriger Berufserfahrung. Sie meint: «Essstörungen zeichnen sich grundsätzlich dadurch aus, dass das Essen – oder im Fall einer Anorexie Essen vermeiden – so viel Raum einnimmt, dass das Leben der Betroffenen dadurch beherrscht wird.» Man sehe bei Essstörungen meistens dieselben Komponenten wie bei einer Sucht. Im Fall einer Magersucht ist es die Sucht, jede Kalorie zu vermeiden und die Kontrolle über den eigenen Körper zu haben.

Als Eltern Leitplanken setzen

Essstörungen entwickeln sich häufig aus einem Bedürfnis der Selbstbestimmung heraus. «Gerade die Pubertät ist die Zeit, in der Jugendliche mehr Autonomie wollen, auch über ihren Körper. Und da ist es wichtig, dass man Position bezieht und die Verantwortung nicht den Kindern und Jugendlichen allein überlässt. In Familien, in denen andauernd übers Essen gesprochen wird, kann eher eine Störung entstehen, als wenn man einen natürlichen Umgang damit hat.» Ein Warnzeichen kann sein, so Frauke Hartmann, wenn Kinder oder Jugendliche beginnen, beim Speiseplan der Familie übertrieben mitreden zu wollen. Kurz: Alles, was eine strikte Form der Ernährung fördert, sollte mit einem gewissen Misstrauen betrachtet werden. Es geht auch darum, nicht jeden gewünschten Trend mitzumachen.

Liegt bereits eine klare Essstörung vor, empfiehlt Frauke Hartmann, dass die Eltern insbesondere zu Beginn der Behandlung die Führung übernehmen. Da hätten Eltern eine Verantwortung. Und wenn Eltern merken, dass ihr Kind etwa plötzlich stark Gewicht verliere, «kann es durchaus helfen, dem Kind zu sagen, du gehst so lange nicht mehr in dein geliebtes Training, bis du wieder richtig isst.» Der Prävention und der sogenannten Sekundärprävention, nämlich dann zu reagieren, wenn sich die Essstörung zu entwickeln beginnt, kommt also eine sehr wichtige Rolle zu. Nicht selten übrigens sind junge Mädchen mit Magersucht besonders leistungsorientiert und diszipliniert.

Selbstbestimmung kontra Selbstgefährdung

Die Einsicht zur Therapie ist oft ein wichtiger und entscheidender Schritt. In der ambulanten Therapie werden zum Beispiel auf der Verhaltensebene zusammen mit den Eltern notwendige Regeln und Vereinbarungen erarbeitet, die wieder eine Gewichtszunahme möglich machen. «Ein weiterer wichtiger Schritt ist, dass die Essstörung als Sucht akzeptiert wird.» Nicht selten sagen Jugendliche nach einer Therapie, dass sie froh seien, sich endlich nicht mehr den ganzen Tag mit dem Essen beschäftigen zu müssen.

Und in Fällen von starker Anorexie gehört auch die Ernährung über eine Magensonde dazu. Man weiss, dass im Hungerzustand die eigene Urteilsfähigkeit eingeschränkt ist. Das Gehirn schrumpft sichtbar, und Magersüchtige sind in einem solchen Zustand nicht mehr in der Lage, wahrzunehmen, dass sie sich in einer lebensbedrohlichen Situation befinden. Das bessere sich, wenn einige Tage lang wieder Kalorien zugeführt werden. «Bauch, Kopf und Herz gehören einfach zusammen», so Frauke Hartmann.


Gesundheitswoche auf Radio 32

Wir sind auch mit dieser Ausgabe bei der Gesundheitswoche bei Radio 32 mit dabei. Dr. med. Frauke Hartmann, Leitende Ärztin Kinder- & Jugendpsychiatrie, Psychiatrische Dienste im Interview.


Was sind Essstörungen?

Essstörungen sind psychische Erkrankungen und können sich vielfältig äussern – Magersucht ist nur eine davon. In der Schweiz sind rund 3,5 Prozent der Bevölkerung von einer Essstörung betroffen, was über dem europäischen Durchschnitt liegt.

Die häufigsten Essstörungen sind:

  • Anorexie (Magersucht). Betroffene kontrollieren intensiv ihr Essverhalten und essen stetig weniger, viele treiben exzessiv Sport. Sie nehmen stark ab und werden untergewichtig und empfinden sich dennoch als zu dick. Das Untergewicht kann lebensbedrohlich werden. 1,2 Prozent der Mädchen und Frauen und 0,5 Prozent der Knaben und Männer sind davon betroffen.
  • Die Bulimie ist auch als Ess­-Brech­-Sucht bekannt. Menschen mit Bulimie leiden an Ess­attacken, bei denen sie in kurzer Zeit zu viel essen und danach erbrechen oder auch starke Abführmittel einnehmen. Das Gewicht ist meistens im Normalbereich. 2,4 Prozent der Mädchen und Frauen und 0,9 Prozent der Knaben und Männer sind davon betroffen.
  • Binge-Eating-Störung. Das englische Wort Binge steht für Menschen mit einer Binge­-Eating-­Störung erleiden regelmässig Essanfälle, bei denen sie nicht kontrollieren können, wie viel sie essen. Viele sind daher übergewichtig. 2,4 Prozent der Mädchen und Frauen und 0,7 Prozent der Knaben und Männer sind davon betroffen

Was können Eltern tun?

Ermutigen Sie Ihr Kind, auf die Bedürfnisse seines eigenen Körpers zu achten. Vermitteln Sie Freude an der Bewegung und stärken sie sein Selbstvertrauen. Nicht nur schlanke und sportliche Körper sind schöne Körper.

  • Vorbild sein. Leben Sie eine gesunde Beziehung zum Essen und zur Bewegung vor. Zeigen Sie ihrem Kind auch, dass innere Werte wichtiger sind als äussere.
  • Bleiben Sie im Austausch. Fragen Sie ihr Kind, wie es ihm geht und was es beschäftigt. Viele Kinder mit einer Essstörung schämen sich für ihr Verhalten. Sprechen Sie problematisches Essverhalten nicht beim Essen an. Und das Wichtigste: vermeiden Sie Vorwürfe!
  • Holen Sie rasch Hilfe. Wenn Sie realisieren, dass Ihr Kind eine Essstörung entwickelt oder hat, ermutigen Sie es, Hilfe anzunehmen. Holen auch Sie sich als Eltern Unterstützung.

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