Körper und Seele
Stress kommt nicht nur vom Job
Stressige Zeiten gehören zum Leben, können sich langfristig aber auf die körperliche Gesundheit auswirken. PD Dr. med. Christian Imboden, Facharzt und Leiter der Kliniken für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik (KPPP) über Stress und seine Folgen.
Herr Imboden, mit welchem Missverständnis zum Thema Stress möchten Sie gerne aufräumen?
PD Dr. med. Christian Imboden: Mit dem Irrtum, dass Stress vor allem durch die Arbeit verursacht wird. Tatsächlich ist es ein Zusammenspiel von verschiedenen Faktoren. Stress an sich ist auch nicht etwas Negatives, sondern wird nur dann bedenklich, wenn sich eine chronische Stressbelastung entwickelt. Ausserdem sind Menschen, die chronischen Stress entwickeln, nicht schwächer oder weniger belastbar als andere Menschen. Wir alle haben unsere Belastungsgrenzen, und es gibt individuell spezifische Konstellationen, die ein grösseres Risiko mit sich bringen, uns zu überfordern.
Was stresst uns in unserem Alltag am meisten?
Im Beruf ist es neben einem anhaltenden Druck auf die Effizienz zu einem wesentlichen Teil die heute sehr rasche Kommunikation auf verschiedenen Kanälen, die Stress verursachen kann. Viele Arbeitnehmende sind ständig erreichbar und es wird schwieriger, sich zeitlich klar abzugrenzen. Der durch die Arbeit verursachte Stress ist in der Schweiz in den letzten Jahren aber stabil geblieben, wenn auch auf hohem Niveau. Das zeigt der Job-Stress-Index, der regelmässig von der Gesundheitsförderung Schweiz erhoben wird. Daneben sind wir auch im Alltag mit einer sehr hohen Informationsdichte konfrontiert sowie einer gesellschaftlichen Tendenz zu unrealistischen Idealvorstellungen bezüglich zahlreicher verschiedener Rollenbilder.
Wie wirken sich Handy und Co. auf uns aus?
Wir werden ständig von Inhalten berieselt. Wir kommunizieren per Handy, schauen uns Videos an, und es ist viel schwieriger als früher, sich eine ruhige Zeit zu gönnen. Wir alle bekommen immer sofort mit, wenn auf der Welt etwas passiert. Alles ist gefühlt dringlicher, die Entwicklungen scheinen dramatischer. Zugleich sind wir mit einer medialen Scheinwelt konfrontiert, die uns suggerieren kann, zu wenig erfolgreich, zu wenig interessant und so weiter zu sein. Es ist wichtig, sich aktiv Gedanken zu machen, wie man mit diesen Kanälen umgehen möchte und welche Rolle man ihnen im eigenen Leben einräumen möchte.
Was wäre eine Lösung?
Es ist sinnvoll, sich zu überlegen, welche Kanäle man nutzt und zu welchen Zeiten. Ich kenne Menschen, die am Wochenende zeitweise bewusst auf das Smartphone verzichten oder es abends um eine bestimmte Zeit weglegen. Viele Benachrichtigungen kann man ausserdem filtern, um nicht ständig abgelenkt zu werden. Es ist sehr zu hinterfragen, ob das Handy wirklich einen Platz im Schlafzimmer haben sollte. Häufiges „Doom-Scrolling“, also der stundenlange Konsum von negativen News, tut uns nicht gut. Untersuchungen zeigen, dass wir dadurch ängstlicher werden und schlechter schlafen.
Manchmal hat man den Eindruck, einige Menschen kriegen alles unter einen Hut: den Job, den Vereinsvorstand, das Familienleben. Sind wir nicht alle gleich stressresistent?
Das Stressempfinden ist sehr individuell. Es geht nicht um die Summe der Aktivitäten, sondern darum, wie viele Aktivitäten uns Energie kosten und wie viele uns Energie geben. Für den einen ist der Job im Vereinsvorstand eine willkommene Abwechslung, die Freude macht und Energie spendet. Für den anderen ist es eine Zusatzbelastung, gerade wenn etwa die Konstellation im Vorstand konflikthaft ist. Es lohnt sich, die Gesamtsumme der Aktivitäten im Auge zu behalten und sich zu fragen, was Freude bringt und was Kraft raubt. Das gilt auch für soziale Kontakte. Tatsächlich haben wir aber auch unterschiedliche genetische Voraussetzungen und machen unterschiedliche Entwicklungen durch, die dazu führen, dass unsere Energieressourcen, respektive der Aufwand, der betrieben wird für die Bewältigung von Aufgaben, unterschiedlich sind. So gelangen beispielsweise Menschen mit hohem Perfektionsanspruch schneller in eine Überlastung.
Vermutlich sind wir auch nicht immer gleich belastbar…
Tatsächlich ändert sich die Belastbarkeit im Laufe des Lebens. Mit 50 oder 60 Jahren benötigen wir mehr Erholung als mit 30, und unsere Fähigkeit, Probleme kreativ zu lösen, nimmt ab. Für Männer ab 50, die immer viel gearbeitet und geleistet haben, kann es eine Kränkung sein, zu spüren, dass sie mehr Erholung brauchen. Aber auch bei jungen Leuten, die problemlos viel leisten, kann die Belastbarkeitsgrenze plötzlich erreicht sein – zum Beispiel, wenn ein System, das per se funktioniert, ins Wanken gerät. Vielleicht durch einen Konflikt am Arbeitsplatz, eine Trennung oder die Erkrankung eines Familienmitglieds.
Bei welchen Anzeichen muss man sich selber sagen: Achtung, mir wird es zu viel?
Zu viel Stress schwächt das Immunsystem, verändert den Kreislauf, stört den Schlaf und kann die Darmflora verändern. Betroffene können sich weniger gut von stressauslösenden Gedanken lösen, fühlen sich unruhig und reizbar. Zu den körperlichen Symptomen gehören Muskelverspannungen, Kopfschmerzen, Magenprobleme und Bluthochdruck. Langfristig können kognitive Funktionen wie Konzentration und Merkfähigkeit beeinträchtigt werden. Auch die emotionale Verfassung leidet: Man wird verzweifelt, hat Wutausbrüche oder stumpft emotional ab. Ein Warnzeichen ist, wenn das Wochenende nicht mehr zur Erholung reicht und der Gedanke an den Montag sofort Stress auslöst. Es kann zu verstärktem Substanzkonsum kommen, etwa Alkohol zum Entspannen oder Rauchen als Stressventil. Diese Symptome können in Richtung einer Stressfolgeerkrankung wie Angststörung oder Depression führen.
Wie findet man da wieder heraus?
Grundsätzlich geht es immer darum, die Prioritäten neu zu sortieren. Sich Gedanken dazu zu machen, wo eine Belastung vorliegt und wann Auszeiten möglich sind. Es braucht Momente für Rückzug und Entspannung. Bei zu hoher Belastung sollte der Entspannung mehr Zeit eingeräumt werden, damit die Waage wieder in die richtige Richtung ausschlägt. Da kann es auch notwendig sein, gewisse Tätigkeiten aufzugeben. Vielleicht das Amt im Vereinsvorstand an den Nagel hängen, um mehr Zeit für Sport und Bewegung zu haben. Auch kreative Hobbys wie Musik können guttun. Oder Achtsamkeitspraxis und Tätigkeiten in der Natur. Wichtig ist, eigene Wege für die Entspannung zu finden, Warnzeichen zu erkennen und die eigenen Grenzen zu akzeptieren.
Was, wenn das nicht mehr ausreicht?
Je nach Situation kann eine vorübergehende Arbeitsunfähigkeit sinnvoll sein. Diese muss lange genug dauern, damit eine nachhaltige Erholung greifen kann. Zudem sollte man nicht einfach in die vorherige Situation zurückkehren, sondern Verpflichtungen und Aufgaben anpassen. Bei einem fortgeschrittenen Burnout-Prozess beziehungsweise einer klinisch depressiven Symptomatik sind oft bis zu zwei Monate notwendig, um sich zu erholen. Wichtig ist mir, dass Menschen, die chronischen Stress entwickeln, nicht schwach oder nicht belastbar sind. Wir alle können an unsere Grenzen kommen. Menschen, die ein Burnout oder eine daraus resultierende Erkrankung entwickeln, sind danach nicht grundsätzlich weniger belastbar – vielmehr können sie durch die Anpassung ihrer Prioritäten und Werte sogar kreativer und zufriedener sein.
Positiver und negativer Stress
Stress gehört zum Leben, doch nicht jeder Stress ist schädlich. Man unterscheidet zwischen Eustress, also positivem Stress, und Distress, dem negativen Stress. Eustress entsteht, wenn eine Herausforderung als machbar empfunden wird und kann sogar motivierend wirken. Er steigert die Konzentration, Leistungsfähigkeit und Energie – etwa vor einem Wettkampf, einer Präsentation oder einer Prüfung. Das Stresshormon Cortsiol wird kurzfristig und in moderaten Mengen ausgeschüttet und sinkt nach der Belastung wieder ab. Anders verhält es sich beim Distress. Dieser entsteht, wenn eine Situation als überfordernd oder unkontrollierbar empfunden wird. Dauerhafter Leistungsdruck, Zeitmangel oder ungelöste Konflikte können dazu führen, dass der Cortisolspiegel über längere Zeit erhöht bleibt, was sich negativ auf die physische und psychische Gesundheit auswirken kann.
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