Phantomschmerzen
Schmerz ohne Heimat
Phantomschmerzen entstehen durch eine Fehlanpassung im Nervensystem und im Gehirn. Ziel von Anästhesistinnen und Anästhesisten ist deshalb, dass sie gar nicht erst entstehen. Wie das geht, erklärt Dr. med. Christian Seidl, Chefarzt Anästhesiologie im Bürgerspital Solothurn.
Herr Seidl, Anästhesistinnen und Anästhesisten spielen bei der Prävention von Phantomschmerzen eine wichtige Rolle. Welche?
Christian Seidl: Unsere Funktion liegt sowohl in der Prävention als auch in der Behandlung von Phantomschmerzen – und das beginnt schon vor der Amputation. Ein zentraler Baustein sind anästhesiologische Massnahmen zur Vorbeugung, damit das zentrale Nervensystem den Schmerz nicht langfristig speichert und ein sogenanntes Schmerzgedächtnis ausbildet. Dafür setzen wir vor dem operativen Eingriff Schmerzmittel und gezielte Nervenblockaden ein, dazu gehören beispielsweise periphere Nervenblockaden, bei denen wir gezielt Nerven betäuben, oder kontinuierliche Katheterverfahren, die über mehrere Tage für Schmerzfreiheit sorgen und das Risiko für Phantomschmerzen deutlich reduzieren. Nach der Operation begleiten wir die Patienten weiterhin eng.
Wenn wir von Phantomschmerzen sprechen – wovon sprechen wir genau?
Phantomschmerzen sind Schmerzen, die in einem Körperteil empfunden werden, der amputiert wurde. Dabei kann es sich um brennende, stechende, elektrisierende oder krampfartige Schmerzen handeln. Viele Menschen berichten auch von einem Gefühl der Verkrampfung oder unangenehmen Bewegungen im «fehlenden» Körperteil. Es ist wichtig, diese Schmerzen von sogenannten Phantomempfindungen zu unterscheiden –das sind nicht-schmerzhafte Wahrnehmungen wie Kribbeln, Kälte oder das Gefühl, dass der Arm oder das Bein noch da ist. Im Alltag werden diese beiden Begriffe oft verwechselt.
Wie und wann wird die Diagnose Phantomschmerz gestellt?
Phantomschmerzen werden klinisch diagnostiziert. Das bedeutet, wir verlassen uns auf die Wahrnehmung der Patientinnen und Patienten und die genaue Beschreibung ihrer Schmerzen. Wenn jemand nach einer Amputation Schmerzen in dem Körperteil verspürt, der nicht mehr vorhanden ist, und andere Ursachen ausgeschlossen sind, sprechen wir von Phantomschmerzen. In den meisten Fällen treten diese schon in den ersten Tagen oder Wochen nach der Amputation auf, sie können aber auch später beginnen.
Welche therapeutischen Ansätze gibt es, um Phantomschmerzen zu behandeln?
Die Therapie ist immer multimodal, das heisst, sie besteht aus einer Kombination mehrerer Methoden. Zum Beispiel medikamentöse Therapien mit Antidepressiva, Anti-konvulsiva oder Opioiden. Spiegeltherapie, bei der durch visuelle Täuschung das Gehirn umgelernt wird. Eine Weiterentwicklung davon sind die heutigen Virtual-Reality-Therapien, und mit Neuromodulation können die Nerven elektrisch simuliert werden. Auch Physiotherapie und psychologische Verfahren wie Hypnose oder Achtsamkeitstraining kommen zum Einsatz.
Wie gross ist die psychische Komponente bei der Entwicklung und der Behandlung von Phantomschmerzen?
Die psychische Komponente darf man nicht unterschätzen. Angst, Stress und depressive Verstimmungen können die Entstehung und Intensität von Phantomschmerzen begünstigen. Umgekehrt kann chronischer Phantomschmerz die psychische Gesundheit belasten. Darum arbeiten wir eng mit Psychologinnen und Psychologen zusammen, welche die Betroffenen durch kognitive Verhaltenstherapie, Hypnose oder Entspannungstechniken unterstützen.
Gibt es ein Missverständnis zum Thema Phantomschmerz, mit dem Sie gerne aufräumen würden?
Ja, leider gibt es das immer noch. Viele Menschen glauben, Phantomschmerzen seien «eingebildet» oder rein psychisch. Das stimmt nicht. Phantomschmerzen sind neurologisch messbar –sie entstehen durch eine Fehlanpassung im Nervensystem und im Gehirn. Ein weiterer Irrglaube ist, dass diese Schmerzen von selbst verschwinden. Bei vielen Betroffenen bleiben sie jedoch bestehen, wenn sie nicht frühzeitig und umfassend behandelt werden.
Gab es in den letzten Jahren Fortschritte bei der Behandlung? Welche?
Ja, definitiv. In den letzten Jahren haben wir grosse Fortschritte gemacht. Neuromodulationstechniken sind deutlich präziser geworden. Auch Virtual-Reality-Anwendungen bieten neue Möglichkeiten. Die individualisierte Schmerztherapie, bei der wir die Behandlung genau auf die Bedürfnisse der einzelnen Patientinnen und Patienten zuschneiden, wird immer mehr zum Standard. Zudem wird die Forschung zur Verknüpfung von Nervensystem, Gehirn und Psyche immer tiefgreifender, sodass Behandlungen heute viel ganzheitlicher gedacht werden.
Gibt es Entwicklungen, auf die Sie in Zukunft hoffen?
Ich wünsche mir, dass die Prävention noch stärker in den Fokus rückt. Wenn wir Schmerz schon vor der Amputation und in der frühen postoperativen Phase gezielt verhindern, können wir viel Leid vermeiden. Ausserdem hoffe ich, dass die Forschung zu Hirnstimulation und neuronalen Implantaten weiter voranschreitet. Und nicht zuletzt wünsche ich mir, dass psychologische Begleitung und interdisziplinäre Therapie überall verfügbar sind –auch ausserhalb grosser Zentren.
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