Gehirnentwicklung
Das Gehirn als Grossbaustelle
In der Adoleszenz durchlaufen Jugendliche nicht nur hormonelle Veränderungen, auch das Gehirn durchläuft in dieser Phase einen umfassenden Umbau. Ein notwendiger Entwicklungsprozess, der von den Eltern aber viel Geduld erfordert. Dr. med. Anne-Catherine von Orelli, Chefärztin der Kinder- und Jugendpsychiatrie, erklärt im Interview, was es mit der wichtigen Phase auf sich hat und wie die Jugendlichen unterstützt werden können.
Frau von Orelli, in der Adoleszenz durchläuft das Gehirn wichtige Entwicklungsphasen. Was passiert in dieser Zeit?
Während der Adoleszenz wird das Gehirn als Ganzes umgebaut. Die unterschiedlichen Gehirnareale entwickeln sich dabei zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Grob kann gesagt werden, dass die Entwicklung von hinten nach vorne verläuft. Der präfrontale Cortex, das Stirnhirn, welches unter anderem für die Impulskontrolle, Entscheidungsfindung und Risikobewertung zuständig ist, entwickelt sich vergleichsweise später in der Adoleszenz.
Was bedeutet das?
Die Fähigkeit zum Planen und zum Erfassen der Konsequenzen des eigenen Handelns sowie die Impulskontrolle sind während der Adoleszenz nicht vollständig ausgebildet. Jugendliche sind deshalb risikofreudiger als Erwachsene, gerade, wenn sie mit Freundinnen und Freunden unterwegs sind. Gemeinsam haben sie viel Mut, und testen gerne Grenzen aus.
Wieso ist diese Phase so wichtig?
In der Adoleszenz kommt es zu einer Ablösung von den Eltern, und eine eigene Identität entwickelt sich. Vom sicheren Hafen daheim gehen die Jugendlichen Schritt für Schritt in Richtung Eigenständigkeit. Die Gewichtung der familiären Beziehungen nimmt in dieser Zeit ab, die Beziehung zu Freundinnen und Freunden gewinnen an Relevanz – schliesslich muss man, wenn man sich von daheim löst, ja einen Ort finden, wo man sich aufgehoben fühlt. In diesem Prozess der Abgrenzung von den Eltern und anderen Autoritätspersonen kann es Konflikte geben. Diese sind zwar unangenehm, aber wichtig.
Wie kann man als erwachsene Bezugsperson die Jugendlichen in dieser Zeit unterstützen?
Das ist eine komplexe Frage. Grundsätzlich ist es einfach wichtig, den Jugendlichen in dieser Zeit eine verlässliche Beziehung anzubieten und ihnen so Orientierung und Stabilität zu vermitteln. Man kann ehrlich nachfragen und Interesse daran zeigen, was sie interessiert und mit was sie sich beschäftigen. Zuhören, ohne zu bewerten, auch wenn das nicht immer einfach ist.
Und was, wenn man wirklich Mühe hat damit, wie sich die Jugendlichen verhalten?
Ich würde hier in einem ersten Schritt unterscheiden zwischen problematischem Verhalten, etwa Drogenkonsum oder Gewalt, und einem Verhalten, das noch einem normalen Verhalten von Jugendlichen entspricht, die manchmal über die Stränge schlagen.
Fangen wir mit etwas Harmlosem an. Nehmen wir an, die Jugendlichen fangen an, Zigaretten zu rauchen.
Rauchen ist ein gutes Beispiel wo die Eltern unter Umständen gefordert sind, eine klare Haltung zu vertreten. Jugendliche blenden die Risiken des Rauchens zum Teil aus, als ob diese sie nicht betreffen würden. Es ist wichtig, als Eltern zu äussern, dass man nicht möchte, dass das eigene Kind raucht, mit ihnen auch über die Schädlichkeit des Rauchens zu sprechen und sie zu motivieren, möglichst rasch wieder mit dem Rauchen aufzuhören. Ein generelles Verbot führt meist nicht zum Erfolg, viel mehr empfiehlt es sich, mit den Jugendlichen früh das Gespräch darüber zu suchen und klare Vereinbarungen zu treffen. Wenn Eltern selbst rauchen, ist es wichtig, dass die den Jugendlichen erklären, wieso es ihnen so wichtig ist, dass die Jugendlichen nicht auch rauchen.
Wie empfänglich sind die Jugendlichen in dieser Phase eigentlich für Erklärungen und Werte der Erwachsenen?
Manchmal mag es vielleicht scheinen, als würde man gegen eine Wand reden. Dem ist aber nicht so, im Gegenteil: Erklärungen und Werte sind eine wichtige Grundlage, und das, was die Eltern denken, bleibt für die Jugendlichen wichtig. Damit legt man eine Basis, auf die sie im Erwachsenenalter zurückgreifen können. Man kann sich eine Waage vorstellen, auf der sich das rationale Denken und die Lust am Risiko gegenseitig aufwiegen. In der Adoleszenz ist das Gleichgewicht anders als im Erwachsenenalter, aber das gibt sich mit der Zeit.
Und wann ist der Zeitpunkt, wo man genau hinschauen und allenfalls Hilfe suchen sollte?
Wenn man den Eindruck hat, dass es den Jugendlichen wirklich nicht gut geht, und dass sie nirgends mehr Halt finden. Wenn sie sich zurückziehen, wenn sie ihre früheren Hobbies nicht mehr ausüben oder keine sozialen Kontakte mehr pflegen. Ein Alarmzeichen ist auch, wenn die Leistungen in der Schule oder in der Berufslehre nachlassen, oder wenn diese im schlimmsten Fall gar nicht mehr besucht wird.
Wie können Sie die Jugendlichen unterstützen?
Die Fälle sind natürlich individuell. Grundsätzlich schauen wir aber genau hin, um zu erkennen, ob allenfalls eine Diagnose wie eine Depression, eine Angst- oder Zwangsstörung vorliegt. Danach besprechen wir mit der Familie und Akteuren wie dem Lehrbetrieb oder der Schule, was es braucht, damit die Jugendlichen wieder Boden unter den Füssen spüren. Es gibt in diesem Bereich viele Unterstützungsangebote, mit denen wir eng zusammenarbeiten.
Häufig bereitet der Medienkonsum der Jugendlichen Sorgen. Wie stehen Sie dazu?
Es geht nicht nur um die Menge, sondern auch um die Inhalte, die am Handy oder PC konsumiert werden. Viele Jugendliche finden tatsächlich einen gesunden Umgang mit Social Media oder anderen digitalen Angeboten. Auch, weil es in der Schule stark thematisiert wird. Wichtig ist, dass Kontakte nicht nur am Bildschirm, sondern auch im realen Leben stattfindet, und dass das Handy auch mal zur Seite gelegt werden kann. Das gilt auch für Erwachsene. Ganz wichtig finde ich, dass der Schlaf nicht unter dem Medienkonsum leidet. Denn ein regelmässiger und ausrechender Schlaf ist wichtig für die Entwicklung und das psychische Wohlbefinden.
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