SPORTSUCHT
Dem Impuls nicht widerstehen können
Daniel Birrer, wie oft kommt Sportsucht vor?
Bei der Sportsucht handelt es sich um eine substanzunabhängige Verhaltensstörung. Zahlen zu Verhaltenssüchten sind schwierig zu schätzen. Deutsche Kollegen gehen davon aus, dass etwa jeder 100. Sportler vereinzelte Auffälligkeiten hat, jeder 1000. Sportler manifeste Störungsmerkmale aufweist und jeder 10’000. Sportler behandlungsbedürftig ist. Das sind natürlich grobe Schätzungen. Eine neuere Studie mit Ausdauersportlern geht davon aus, dass 4.5 % der Befragten zumindest sportsuchtgefährdet sind.
Wie zeigt sich die Sucht?
Verhaltenssüchte sind durch wiederholte, impuls- und zwanghafte Handlungen ohne vernünftige Motivation gekennzeichnet. Sie können nicht kontrolliert werden und entsprechen meist nicht den Interessen der Betroffenen und deren Umfeld. Im Falle der Sportsucht bedeutet das, dass die betroffene Person dem Impuls nicht widerstehen kann, sich zu bewegen und Sport zu treiben. Sie fühlt sich angespannt und erfährt durch Sport ein Gefühl der Erleichterung. Zudem hat Sport treiben generell viele positive physische und psychische Aspekte. Die positiven physischen Aspekte, z. B. auf das Herz-Kreislaufsystem, sind hinlänglich bekannt. Die positiven psychischen Aspekte weniger, beispielsweise die Verbesserung des Stimmungshaushalts, Steigerung des Kompetenzerlebens und des Selbstwerts. «Sich gut, leistungsfähig und wertvoll fühlen» ist natürlich sehr positiv.
Wo liegen die Gefahren?
Es gibt verschiedene Gefahren. Doch man muss zwischen einer Sportsuchtgefährdung und einer erkennbaren Störung unterscheiden. Man spricht von einer Sucht, wenn folgende Merkmale bestehen:
- Die betroffene Person kann Verpflichtungen in verschiedenen Lebensbereichen nicht mehr nachgehen. Sie ist beispielsweise am Arbeitsplatz abwesend, erreicht nur noch eine verminderte Arbeitsqualität oder nimmt familiäre Verpflichtungen aufgrund der Sporttätigkeit nicht mehr wahr.
- Das Sporttreiben führt zu physischen Schädigungen.
- Sport wird trotz Schwierigkeiten im zwischenmenschlichen Bereich oder physischen Problemen impulsartig weiter betrieben. Die Betroffenen können nicht aufhören oder sind unfähig, die Dosis zu verkleinern.
- Eine Gewöhnung führt dazu, dass die Dosis erhöht werden muss. Somit muss man immer mehr Sport treiben, um die positiven Effekte zu erleben.
- Wenn man nicht mehr oder nur noch weniger Sport treiben kann, führt dies zu Entzugserscheinungen: Reizbarkeit, Spannungen, Ruhelosigkeit, Niedergeschlagenheit, Schuldgefühle etc.
Sportsucht wird in den Klassifikationssystemen für medizinische Diagnosen nicht als eigenständige psychische Störungskategorie geführt. Das ist aus meiner Sicht korrekt. Problematisch wird das zwanghafte Sporttreiben nämlich vor allem in Verbindung mit anderen psychischen Störungen, wie etwa Anorexie, Bigorexie oder Persönlichkeitsstörungen. Sport wird dann mit der Absicht, Figur oder Gewicht zu kontrollieren oder zu verändern, betrieben. Die Betroffenen versuchen, ein zwanghaftes positives Selbstbild aufrecht zu erhalten.
Wie wird Sportsucht therapiert?
Wir haben bei uns in Magglingen keine Erfahrungen mit Sportsucht. In der Regel wird Sportsucht wie die anderen Verhaltenssüchte therapiert. Dies sind unter anderem Methoden der kognitiven Verhaltenstherapie, Akzeptanz-Commitment-Therapie und achtsamkeitsbasierter Verhaltenstherapie. Von Vorteil ist natürlich, wenn die Therapeuten ein gewisses Verständnis für Sport und Sporttreiben mitbringen. Mittlerweile gibt es einige Einrichtungen in der Schweiz, welche dafür sensibilisiert sind.
Daniel Birrer
ist Leiter der Sportpsychologie der Eidgenössischen Hochschule für Sport Magglingen EHSM. Die Sportpsychologie in Magglingen befasst sich mit dem Wahrnehmen, Denken und Verhalten von Leistungssportlern. Das Augenmerk liegt auf der ganzheitlichen Betrachtung zwischen psychischen Faktoren und der sportlichen Leistung,
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