UNTERSCHIEDLICHES SCHMERZEMPFINDEN
Der Schmerz ist weiblich
Immer mehr Studien zeigen, dass Frauen Schmerzen oft stärker empfinden als Männer. Zeit für ein Umdenken in der Schmerzmedizin.
Es gibt den viel gehörten Spruch: Müssten Männer Kinder gebären, so wäre die Menschheit längst ausgestorben. Tatsache aber ist, dass Männer Schmerzen grundsätzlich besser aushalten können als Frauen. Untersuchungen, bei denen Männern und Frauen mit Druck und Hitze Schmerzen zugefügt werden, zeigen, dass Männer eher in der Lage sind, schmerzstillende körpereigene Botenstoffe auszuschütten als Frauen. «Man muss wohl das Bild revidieren, dass Männer schmerzempfindlicher seien als Frauen, es ist eher umgekehrt», sagt Sascha Mandic, stellvertretender Chefarzt der Anästhesie des Kantonsspitals Olten und Schmerztherapeut. Bei Messungen der Hirnströme zeigte sich auch, dass beim selben Schmerz bei Frauen andere Hirnareale aktiv würden als bei Männern.
Frauen äussern sich differenzierter
Schmerz ist aber nicht gleich Schmerz. Es sei wichtig, einen Unterschied zwischen akutem Schmerz zu machen, der nach paar Wochen mehr und mehr abklinge, und dem chronischen Schmerz. «Beim akuten Schmerz gibt es nur wenig geschlechterspezifische Unterschiede in der Schmerzbehandlung», so Mandic. Grössere Geschlechterunterschiede zeigten sich aber bei einer Vielzahl von chronischen Schmerzerkrankungen, die bei Frauen allgemein häufiger auftreten als bei Männern. Nicht immer ist bei chronischen Schmerzen die Ursache medizinisch klar. «Der Schmerz ist für diese Menschen aber real, denn ihre körpereigenen Systeme sind in solchen Fällen nicht in der Lage, den Schmerz zu unterdrücken.» Typische chronische Schmerzerkrankungen, welche bei Frauen etwa zwei- bis dreimal häufiger vorkommen, sind die Migräne, das Reizdarmsyndrom oder die Rheumatoide Arthritis. Frauen entwickeln dabei auch häufiger Begleitsymptome wie zum Beispiel Angst oder Schlafstörungen und Depressionen.
Frauen setzen sich aber auch anders mit dem Thema Schmerz auseinander: «Sie können meistens viel differenzierter und exakter ihr Leiden beschreiben als Männer und sind in der Regel offener gegenüber einem ganzheitlichen Ansatz in der Therapie», sagt Schmerztherapeut Sascha Mandic. Männer verlangten rascher nach einer Intervention in Form einer Spritze oder eines Eingriffs, Frauen nutzten auch komplementäre Angebote wie Akupunktur, Massage oder Psychotherapie.
Genderspezifische Unterschiede bei Schmerzen
Frauen
- suchen eher eine Ärztin oder einen Arzt auf
- können den Schmerz differenziert beschreiben
- sind offener für ganzheitliche Therapien
- leiden zwei- bis dreimal häufiger an gewissen chronischen Schmerzerkrankungen
- haben eine geringere körpereigene (endogene) Schmerzhemmung
Männer
- neigen eher dazu, den Schmerz zu tolerieren
- suchen eher den Weg der Selbstbehandlung
- verlangen beim Arztbesuch rascher nach einer Schmerzspritze
- neigen aufgrund von Schmerzen eher zu einer Suchtmittelabhängigkeit und gesteigerter Aggressivität
- haben eine stärkere körpereigene Schmerzhemmung
Zu wenig spezifische Medikamente für Frauen
«Das Bewusstsein, dass Frauen schmerztherapeutisch anders behandelt werden sollten, kommt mehr und mehr», sagt Sascha Mandic. Ein grosser Aufholbedarf bestehe vor allem bei der Erforschung von Schmerzmedikamenten. «Studien, wie Schmerzmedikamente wirken, wurden bis vor 20, 30 Jahren fast ausschliesslich an Männern gemacht. Heute aber wissen wir, dass Frauen aufgrund vieler Faktoren ganz anders auf Medikamente ansprechen als Männer.» Opiumhaltige Schmerzmittel etwa wie Morphin wirken bei Frauen verzögert, dafür stärker und lassen später nach. Frauen reagieren auch häufiger mit Übelkeit als Männer. Frauen weisen deshalb auch ein höheres Risiko für unerwünschte Nebenwirkungen von Arzneimitteln auf. «Bei der Entwicklung von genderspezifischen Medikamenten stehen wir erst am Anfang, es gibt bis heute noch kein genderspezifisches Schmerzmittel», so Sascha Mandic.
Körpereigene Schmerzhemmung bei der Geburt
Während der Schwangerschaft wird das körper-eigene System der Frau zur Schmerzhemmung gegen Ende der Schwangerschaft immer stärker. Der Grund dafür sind die veränderten Hormonspiegel. Während der Geburt ist dieses System stärker aktiviert, damit der Geburtsschmerz ausgehalten werden kann. Nach der Geburt gehen die Hormonspiegel wieder in den ursprünglichen Zustand zurück.
Weitere Beiträge
Gendergerechte Behandlung,Gendermedizin
Wenn die Vergangenheit wiederkommt
Eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) ist eine Reaktion auf ein traumatisches Ereignis. Am besten bekannt ist sie im Zusammenhang mit Kriegsopfern. Frauen sind anfälliger für posttraumatische Belastungsstörungen als Männer – doch heute weiss man, dass auch das Alter offenbar eine grosse Rolle spielt.
Gendergerechte Behandlung,Gendermedizin
Millimetergenauer Eingriff
Auch bei Prostatakrebs gibt es selten nur einen Weg in der Therapie. Deshalb nimmt das Vorgespräch mit dem Patienten eine wichtige Rolle ein, sagt der behandelnde Arzt Dr. med. Jens Mundhenk.
Gendermedizin,Gendergerechte Behandlung
«Ich gestattete mir, krank zu sein»
Als Antonia Sommer die Diagnose Brustkrebs erhielt, wusste sie, es kann auch einen Weg geben, den Krebs zu besiegen. Neun Monate lang Therapien hat die heute 59-jährige Frau hinter sich und schaut optimistisch in die Zukunft.