Palliative Care

«Das Thema Lebensende wird vernachlässigt»

Die Palliative Care begleitet Menschen, die an unheilbaren, fortgeschrittenen und lebensbedrohlichen Krankheiten leiden.

Herr Jungi, Sie sind leitender Arzt auf der Palliativstation im Kantonsspital Olten. Wann kommen die Menschen zu Ihnen?
Dr. med. Manuel Jungi: Die Patientinnen und Patienten kommen zu uns, wenn ihre zeitliche Perspektive absehbar und gleichzeitig die Betreu­ung komplex wird. Bei einigen von ihnen geht ein langer Prozess voraus, weil sie schon länger an einer unheilbaren Krankheit leiden. Sie sind an einem Punkt angekommen, an dem es für sie nicht mehr weitergeht. Andere realisieren erst an diesem Punkt, dass ihr Leben endlich ist, auch wenn sie bereits eine lange Krankheitsgeschichte haben. Wer sich nie mit dem eigenen Lebens­ ende auseinandergesetzt hat, wird davon über­rumpelt. Wenn man an der Ursache einer schwe­ren Krankheit nichts mehr ändern kann, steht am Ende des Prozesses der Tod. Das schockiert die Menschen immer wieder.

Warum scheint es vielen Menschen schwerzufallen, sich mit dem eigenen Lebensende zu befassen?
Wir leben in einer Gesellschaft, die uns glaubhaft machen will, dass alles machbar ist – mit Geld, künstlicher Intelligenz und immer mehr Digitali­sierung. Den Tod kann uns jedoch niemand abnehmen. Er ist Teil des Lebens, wie die Geburt. Es gibt andere Kulturen, in denen der Tod präsen­ter ist. In Mexiko wird jedes Jahr der «Día de los Muertos» gefeiert. Bei uns sind ähnliche Bräuche verloren gegangen. Menschen, die ihre Eltern, Lebenspartner oder andere Bezugspersonen durch eine Krankheit verlieren, setzen sich noch eher mit dem Tod auseinander. Ansonsten ist der Tod in unserer Gesellschaft eher tabuisiert. Man redet wenig darüber und ist oft überfordert, wenn man an den eigenen Tod denkt.

Müssen wir uns überhaupt damit befassen?
Ich denke schon. Geboren zu werden bedeutet auch, irgendwann sterben zu müssen.

Warum haben viele Menschen Angst vor der Palliativstation?
Viele glauben, die Palliativstation sei die Endsta­tion im Spital. Das stimmt so nicht. Zwar haben wir komplex kranke Patienten bei uns, aber viele von ihnen haben noch Monate vor sich. Wir helfen ihnen, sich bewusster zu über legen, was sie mit dieser Zeit machen möchten. Wenn man von bestimmten Therapien und Operationen absieht, hat man möglicherweise eine bessere Lebens­qualität in der verbleibenden Zeit und damit auch noch etwas Zeit für die Dinge, die einem wichtig sind.

Ziel ist also nicht, möglichst lange zu leben, sondern möglichst gut?
Zeit hat verschiedene Aspekte. Sie kann die Dauer betreffen, aber Zeit hat auch immer einen Inhalt. Die Dauer können wir kaum beeinflussen. Doch den Inhalt, also das, was wir mit dieser Zeit machen, haben wir in der Hand. Man kann medizinisch noch so viel Zeit herausholen, aber wenn man dieser Zeit keinen Inhalt gibt, wirkt sie trotzdem verloren. Was für die Patienten eine gute Zeit ist, bestimmen sie selbst. Das können wir ihnen nicht abnehmen. Aber wenn wir sie kennenlernen und ihre Wünsche verstehen, können wir die Massnahmen entsprechend anpassen. Wir versuchen, ein gutes Betreuungs­netz zu etablieren.

Wie sieht so ein Betreuungsnetz aus?
Wir organisieren ein Rundtischgespräch mit allen Beteiligten – dazu gehören die Angehörigen sowie je nach individuellem Bedarf Akteure wie die Spitex, die Krebsliga oder die Sozialberatung. In diesem Gespräch wird geklärt, wie und ob die Wünsche der Patienten umsetzbar sind. Wir ent­werfen einen Betreuungs-­ und Notfallplan, falls die Symptome der Patienten plötzlich stärker werden. Es braucht idealerweise eine Hausarzt­praxis, die die Betreuung weiterführt. Das wird jedoch immer schwieriger, da es immer weniger Hausärztinnen und Hausärzte gibt, die Haus­ besuche machen.

Und was, wenn es irgendwann daheim nicht mehr geht?
Dann braucht es Institutionen wie Pflegeheime oder ein Hospiz. Derzeit gibt es im Kanton Solo­thurn allerdings nur ein Hospiz in Derendingen. Leider gibt es im Kanton noch keinen etablierten, flächendeckenden spezialisierten mobilen Palliative­-Care­-Dienst (MPD), der eine Betreuung auch in komplexen Situationen bis zum Schluss zu Hause oder im Heim ermöglichen könnte. Der Verein palliative.so ist bestrebt, zusammen mit etablierten Anbietern wie der Spitex sowie Gemeinden und Kanton auf einen koordinierten MPD hinzuwirken. Im Kanton Bern wurde kürz­lich ein MPD-­Projekt nach einer dreijährigen Pilotphase in die Regelstruktur übernommen. Wenn wir ein ähnliches Projekt im Kanton Solo­thurn umsetzen können, könnten wir die Men­schen zu Hause und in den Pflegeheimen besser betreuen. Das wäre für sie wertvolle Zeit, die sie dort verbringen können, wo sie sich wohlfühlen.


Die Palliative Care betreut und behandelt Menschen mit chronisch fortgeschrittenen, unheilbaren und lebensbedrohlichen Krankheiten und begleiten sie in ihrer letzten Lebensphase.


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